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Das Gedächtnis von Babel(3)
Author: Christelle Dabos

»Wie schön für dich, mein gutes Kind!«

Ophelia erstarrte, als sie die Frau mittleren Alters sah, die sich verstohlen dem Stand näherte. Sie führte keine Uhr spazieren, doch dafür war sie mit einem unsäglichen Hut ausstaffiert, auf dem eine Wetterfahne in Form eines Storches blitzschnell um sich selbst kreiselte. Eine Brille mit Goldrand ließ ihre ohnehin schon hervorquellenden Augen noch glupschiger wirken, mit denen sie das Treiben sämtlicher Animisten im Allgemeinen und Ophelias im Besonderen verfolgte.

Wenn die Doyennen Gottes Helfershelfer waren, so war die Kundschafterin die Helfershelferin der Doyennen.

»Deine Tochter ist ein Freigeist, meine kleine Sophie«, wandte sie sich mit wohlmeinendem Lächeln an Ophelias Mutter. »Die muss es in jeder Familie geben! Sie möchte ihre Arbeit im Museum nicht wieder aufnehmen? Respektieren wir ihre Entscheidung. Sie möchte keine Spitze klöppeln? Zwingen wir sie nicht. Lasst sie ihren eigenen Weg gehen … Vielleicht braucht sie eine kleine Luftveränderung?«

Der Wetterstorch und der Blick der Kundschafterin richteten sich gleichzeitig auf Ophelia. Die musste sich beherrschen, um nicht zu überprüfen, ob die Postkarte auch ja nicht aus ihrer Schürzentasche ragte.

»Ihr legt mir nahe, Anima zu verlassen?«, fragte sie misstrauisch.

»Oh, wir legen dir gar nichts nahe!«, kam die Kundschafterin Ophelias Mutter zuvor, die die Lippen bereits gespitzt hatte. »Du bist jetzt ein großes Mädchen. Es steht dir frei zu gehen, wohin du willst.«

Dieser Frau fehlte es definitiv an jeglichem Fingerspitzengefühl; das war auch der Grund, warum sie niemals Doyenne werden würde. Ophelia wusste ganz genau, dass man ihr, sobald sie in einen Zeppelin stieg, folgen und sie im Auge behalten würde. Ja, sie wollte Thorn wiederfinden, aber sie hatte nicht die Absicht, Gott zu ihm zu führen. In solchen Momenten bedauerte sie mehr denn je, dass sie Anima nicht durch einen Spiegel verlassen konnte: Diese besondere Gabe hatte leider ihre Grenzen.

»Ich danke Euch«, sagte sie schließlich, nachdem sie alle Kinder mit Waffeln versorgt hatte. »Ich glaube, mein Zimmer ist mir doch lieber. Frohes Uhrenfest, Madame.«

Das Lächeln der Kundschafterin verrutschte.

»Unsere hochgeschätzten Mütter erweisen dir eine ungeheure Ehre – eine ungeheure Ehre, verstehst du? –, indem sie sich um dich unbedeutende kleine Person sorgen. Also hör endlich auf mit der Heimlichtuerei und vertrau dich ihnen an. Sie könnten dir helfen, und zwar weit mehr, als du denkst.«

»Frohes Uhrenfest«, wiederholte Ophelia schroff.

Die Kundschafterin zuckte zurück, als hätte sie einen Stromschlag bekommen. Sie sah Ophelia erst verblüfft, dann entrüstet an, ehe sie auf dem Absatz kehrtmachte, um sich einem Gefolge alter Damen in der Uhrenprozession anzuschließen. Doyennen. Während die Kundschafterin ihnen Bericht erstattete, nickten sie nur, doch die Blicke, die sie Ophelia von Weitem zuwarfen, waren eisig.

»Du hast es getan!«, rief Ophelias Mutter erbost aus. »Du hast diese abscheuliche Kraft eingesetzt! Gegen die Kundschafterin höchstpersönlich!«

»Nicht absichtlich. Hätten mich die Doyennen nicht gezwungen, den Pol zu verlassen, dann hätte Berenilde mich lehren können, meine Krallen zu beherrschen«, murmelte Ophelia und wischte dabei gereizt mit einem Lappen über den Verkaufstresen.

Sie konnte sich einfach nicht an diese neue Gabe gewöhnen. Bisher hatte sie niemanden verletzt – keine Nase und keinen Finger abgeschnitten –, aber wenn jemand ihr allzu unsympathisch war, dann geschah immer dasselbe: Etwas in ihr regte sich und stieß ihn zurück. Sicher war das nicht die beste Art, eine Meinungsverschiedenheit beizulegen.

»So leicht kommst du mir nicht davon«, zischte Ophelias Mutter mit drohend vorgerecktem, rot lackiertem Zeigefinger. »Mir steht es bis hier, wie du die ganze Zeit im Bett herumlümmelst und unsere hochgeschätzten Mütter provozierst. Morgen früh gehst du in die Fabrik deiner Schwester, Schluss aus!«

Ophelia wartete, bis ihre Mutter und die Kinder abgerauscht waren, ehe sie sich mit beiden Händen auf den Tresen stützte und tief durchatmete. Das Loch, das sie in ihrem Innern zu spüren meinte, war gerade noch ein wenig weiter aufgerissen.

»Soll deine Mutter doch sagen, was sie will«, grummelte der Großonkel. »Du kannst mit mir im Archiv arbeiten.«

»Oder mit mir im Restaurationsatelier«, fügte Tante Roseline aufmunternd hinzu. »Es gibt nichts Befriedigenderes, als ein altes Papier von seinen Würmern und Stockflecken zu befreien.«

Ophelia antwortete ihnen nicht. Sie hatte weder Lust, in die Spitzenfabrik zu gehen noch ins Familienarchiv oder ins Restaurationsatelier. Was sie sich aus tiefstem Herzen wünschte, war, der Wachsamkeit der Doyennen zu entfliehen, um sich an den Ort zu begeben, der auf der Postkarte abgebildet war.

Dorthin, wo auch Thorn vielleicht gerade war.

›Erstes Zwischengeschoss.‹

›Herrentoilette.‹

›Vergesst Euren Schal nicht: Ihr reist ab.‹

Ophelia richtete sich so ruckartig auf, dass sie die Flasche Ahornsirup über den Stand kippte. Mit glühenden Wangen suchte sie inmitten der Küchenwecker und astronomischen Uhren die Person, die ihr diese drei Gedanken eingegeben hatte. Aber sie war schon in der Menge verschwunden.

»Welche Hutnadel hat dich denn gestochen?«, wunderte sich Tante Roseline, als Ophelia hastig ihren Mantel über die Schürze zog.

»Ich muss zur Toilette.«

»Fühlst du dich nicht wohl?«

»Mir ging es noch nie besser«, sagte Ophelia mit einem breiten Lächeln. »Archibald ist gekommen, um mich zu holen.«

 

 

Die Abkürzung

 


Tatsächlich hatte Ophelia, als sie zusammen mit Tante Roseline, dem Großonkel und ihrem Schal die Treppe hochging, keine Ahnung, wie Archibald hier, mitten auf dem animistischen Fest, gelandet war und warum er sie in der Toilette treffen wollte. ›Ihr reist ab‹, hatte er ihr angekündigt. Wenn er beabsichtigte, sie von der Arche fortzubringen, wäre es dann nicht besser gewesen, sich irgendwo draußen zu verabreden, möglichst weit entfernt von all dem Trubel und den Doyennen?

»Ihr hättet am Stand bleiben sollen«, flüsterte Ophelia. »Sobald ihnen auffällt, dass niemand mehr bei den Waffeln ist, werden sie uns suchen.«

Tante Roseline, an die diese Worte gerichtet waren, schleppte alles mit sich, was sie in der Eile hatte zusammenraffen können.

»Du machst wohl Witze«, empörte sie sich. »Wenn auch nur die leiseste Aussicht besteht, an den Pol zurückzukehren, dann komme ich natürlich mit!«

»Und Eure Arbeit im Atelier? Was wird aus den Würmern und Stockflecken?«

»Berenilde muss seit unserer Abreise Schlangen und Halunken die Stirn bieten. Und sie bedeutet mir doch etwas mehr als ein Haufen Papier.«

Ophelias Herz machte einen Sprung, als sie Archibald am anderen Ende der Galerie stehen sah. In einen alten, geflickten Umhang gehüllt, seinen Zylinder schief auf dem Kopf, wartete er seelenruhig vor der Tür zu den Toiletten. Er versuchte nicht einmal, sich zu verbergen, was jedoch keine übertriebene Vorsichtsmaßnahme gewesen wäre: Selbst angezogen wie ein Landstreicher, war er der Typ Mann, der alle Blicke auf sich zog, insbesondere die der Damen.

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