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Das Gedächtnis von Babel
Author: Christelle Dabos


Das Fest

 


Die Uhr näherte sich in beachtlichem Tempo. Es war eine riesige Burgunder Uhr auf Rollen mit einem Pendel, das laut die Sekunden schlug. Ophelia sah nicht alle Tage ein Möbel von solcher Statur auf sich zurasen.

»Bitte entschuldigt, liebe Cousine«, rief ein junges Mädchen, das die Leine der Uhr mit aller Kraft umklammert hielt. »Sie ist normalerweise nicht so aufdringlich. Zu ihrer Entschuldigung sei gesagt, dass Mama sie nicht oft spazieren führt. Dürfte ich eine Waffel haben?«

Ophelia beäugte argwöhnisch das gute Stück, dessen Rollen weiter über die Steinplatten schrammten, und angelte eine Waffel von der Auslage.

»Möchtet Ihr auch etwas Ahornsirup?«

»Auf keinen Fall! Fröhliches Uhrenfest!«

»Fröhliches Uhrenfest«, antwortete Ophelia ohne große Überzeugung, während sie dem Mädchen hinterhersah, das mit seiner Uhr in der Menge verschwand. Wenn es eine Feierlichkeit gab, die sie sich gern erspart hätte, dann diese hier. An den Waffelstand auf dem Kunsthandwerksmarkt von Anima verdonnert, sah sie in einem fort Kuckucksuhren und Wecker an sich vorbeiziehen. Die ununterbrochene Kakofonie all der Tick-Tacks und »Fröhliches Uhrenfest!« echote von den großen Glasfenstern der Halle wider. Ophelia kam es so vor, als drehten sich sämtliche Zeiger nur, um ihr ins Gedächtnis zu rufen, was sie viel lieber verdrängt hätte.

»Zwei Jahre und sieben Monate.«

Ophelia sah Tante Roseline an, die diese Worte zugleich mit den dampfenden Waffeln auf die Servierplatte geworfen hatte. Auch in ihr weckte das Uhrenfest düstere Gedanken.

»Meinst du, Madame würde auf unsere Briefe antworten?«, zischte Tante Roseline und fuchtelte dabei mit dem Teigspatel in der Luft herum. »Ach, i wo! Madame hat Besseres zu tun, nehme ich an.«

»Ihr seid ungerecht«, erwiderte Ophelia. »Berenilde hat sicher versucht, uns zu kontaktieren.«

Tante Roseline legte den Spatel auf das Waffeleisen und wischte sich die Hände an der Schürze ab.

»Natürlich bin ich ungerecht. Nach allem, was am Pol geschehen ist, würde es mich nicht wundern, wenn die Doyennen unsere Briefe abfangen würden. Ach, was beklage ich mich überhaupt. Du hast unter dem Schweigen dieser zwei Jahre und sieben Monate ganz bestimmt mehr gelitten als ich.«

Ophelia wollte nicht darüber sprechen. Wenn sie nur daran dachte, fühlte es sich schon an, als hätte sie die Zeiger einer Uhr verschluckt. Eilends bediente sie einen Juwelier, der seine schönsten Zeitmesser zur Schau stellte.

»Also bitte!«, schimpfte er, als sie alle wie verrückt mit den Deckeln zu klappern begannen. »Wo sind denn eure guten Manieren, meine Damen? Wollt ihr, dass ich euch in den Laden zurückbringe?«

»Tadelt sie nicht«, sagte Ophelia, »es liegt an mir. Sirup?«

»Die Waffel genügt, danke. Fröhliches Uhrenfest!«

Ophelia sah dem Juwelier hinterher und stellte die Sirupflasche, die sie beinahe umgeworfen hätte, auf den Tresen.

»Die Doyennen hätten mir keinen Feststand anvertrauen dürfen. Ich verteile hier nur Waffeln, die ich nicht mal selbst backen kann, und habe obendrein schon ein halbes Dutzend davon auf den Boden fallen lassen.«

Jeder in der Familie kannte Ophelias krankhafte Tollpatschigkeit. Niemand hätte es gewagt, sie um Ahornsirup zu bitten, bei all den empfindlichen Uhrwerken rundherum.

»Ich sage das nur ungern, aber ausnahmsweise muss ich den Doyennen einmal recht geben. Du siehst furchtbar aus, und es ist gut, wenn du deine Hände ein wenig beschäftigst.«

Tante Roseline musterte ihre Nichte streng, ihr blasses Gesicht, die farblose Brille und den Zopf, der so verstrubbelt war, dass keine Bürste mehr durchkam.

»Es geht mir gut.«

»Nein, es geht dir nicht gut. Du verlässt das Haus nicht mehr, isst nichts Vernünftiges, schläfst zu den unmöglichsten Zeiten. Selbst im Museum bist du nie wieder gewesen«, fügte Tante Roseline ernst hinzu, als wäre das der beunruhigendste Umstand von allen.

»Doch, ich war dort«, widersprach Ophelia.

Nach ihrer Rückkehr vom Pol war sie, kaum dass sie aus dem Zeppelin gestiegen war, direkt dorthin geeilt. Sie wollte mit eigenen Augen die Schaukästen ohne Waffensammlung, die Rotunde ohne Militärflugzeuge, die Wände ohne kaiserliche Standarten und die Nischen ohne Paradeuniformen sehen.

Am Boden zerstört war sie wieder herausgekommen und hatte das Museum seitdem nicht noch einmal betreten.

»Das ist kein Museum mehr«, nuschelte sie zwischen den Zähnen. »Von der Vergangenheit zu erzählen, ohne den Krieg zu erwähnen, heißt lügen.«

»Du bist eine Leserin«, schimpfte Roseline sie. »Du wirst ja wohl nicht die Hände in den Schoß legen, bis … bis … Kurz, du musst auf andere Gedanken kommen.«

Ophelia verkniff sich die Erwiderung, dass sie weder die Hände in den Schoß legte noch daran interessiert war, auf andere Gedanken zu kommen. Sie hatte in den letzten Monaten ihr Bett zwar kaum verlassen, aber dennoch viel recherchiert, die Nase in Geografiebüchern vergraben. Sie wollte vor allem hier wegkommen, nur dass das nicht möglich war. Nicht, solange die Doyennen sie überwachten.

Nicht, solange Gott sie überwachte.

»Du hättest deine Uhr während des Festes lieber zu Hause lassen sollen«, bemerkte Tante Roseline plötzlich. »Sie macht alle anderen ganz verrückt.«

Tatsächlich hatte sich ein Trupp Zeitmesser vor dem Waffelstand versammelt. Ophelia legte instinktiv die Hand auf ihre Tasche, dann bedeutete sie den Zeigern, sie sollten anderswo weiterticken.

»Typisch Anima. Man kann keine aus dem Takt geratene Uhr bei sich tragen, ohne das Missfallen aller anderen um sich herum zu erregen.«

»Du solltest sie von einem Uhrmacher untersuchen lassen.«

»Das habe ich schon getan. Sie ist nicht kaputt, nur sehr durcheinander. Fröhliches Uhrenfest, Onkel.«

In seinen alten Wintermantel gehüllt, den Schnurrbart triefend von geschmolzenem Schnee, war Ophelias Großonkel gerade aus der Menge aufgetaucht.

»Jawoll, jawoll, frohes Fest, ihr Ticktacks und Konsorten«, knurrte er, während er direkt hinter den Stand trat und sich selbst eine heiße Waffel nahm. »Das wird langsam lächerlich hier, dieser Kokolores! Tafelsilberfest, Musikinstrumentenfest, Stiefelfest, Hütefest … Jedes Jahr gibt es eine neue Kirmes im Kalender! Wartet nur ab, bald werden wir noch die Pinkelpötte feiern. Zu meiner Zeit, da hat man den Plunder nicht so verhätschelt wie heut, und hinterher wundern sich alle, dass er uns auf der Nase rumtanzt. Schnell, steck das ein«, flüsterte er Ophelia unvermittelt zu und hielt ihr einen Umschlag hin.

»Habt Ihr noch eine gefunden?«

Während sie das Kuvert in ihrer Schürzentasche verschwinden ließ, übertönte Ophelias Herzklopfen das Ticken sämtlicher Uhren des Volksfestes.

»Und nicht irgendeine, mein Mädelchen. Sie aufzutreiben ist nicht so schwierig, aber zu verhindern, dass die Doyennen davon Wind bekommen, ist etwas ganz anderes. Die haben mich beinahe genauso im Visier wie dich. Obacht, übrigens«, brummelte der Großonkel und schnaubte in seinen Schnurrbart, »ich hab die Kundschafterin und ihren vermaledeiten Piepmatz hier rumschleichen sehen.«

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